Medienstunde | Ausgabe A1

4 Mittwoch, 23. Juni 2021 Reifen platt, Seele platt – und nun? VON RAUKE XENIA BORNEFELD DÜREN Schulseelsorge – was sich vielleicht ein wenig piefig anhört, ist für viele Schülerinnen und Schü- ler ein wichtiger Anker in den Stür- men des Großwerdens. „Wir werden bezahlt, um Zeit zu haben“, erklärt Mechtild Bölting, die als Schulsozi- alarbeiterin zusammen mit Schul- seelsorger Michael Kruse an der Bi- schöflichen St.-Angela-Schule das Feld der Schulseelsorge und Schul- sozialarbeit abdeckt. Egal wie – sie hat wesentlichen Anteil an ei- nem gelingenden Miteinander von Schulgemeinschaften nicht nur an kirchlichen Schulen. Die Kette ist abgesprungen oder der Reifen platt.Vielleicht ist zusätz- lich die Seele platt oder die Motiva- tion abgesprungen.Wowirklich der Schuh drückt, erfährt Rudi Hürtgen oft in den Fahrradwerkstätten an der RealschuleWernerstraße und an der Förderschule Athenée Royal in Dü- ren. Er ist wie Kruse Schulseelsorger (zusätzlich amGymnasiumamWir- teltor) und repariert neben Fahrrä- dern dort auch die ein oder ande- re Seele. Neue Sichtweisen finden „Vieles passiert übers Tun“, er- klärt Hürtgen. BeimReparieren der Bremsen oder beim Einstellen der Schaltung entstehenGespräche, die sich keins der Kinder und Jugendli- chen so vorgenommen haben und trotzdem oft dankbar annehmen. Darin können sie neue Sichtweisen einnehmen – auf sich, auf ihr Le- ben, auf ihreUmgebung. „WennDu denkst, dass Du niemandem mehr trauen kannst, ist es gut, eine neue Perspektive zu entwickeln.“ Auch wenn alles in Ordnung ist, wirkt Schulseelsorge: „Wir können schlummernde Talente aufdecken, Selbstwirksamkeit erlebbarmachen, Gemeinschafts- sinn und Kreati- vität fördern“, er- läutert Kruse, der neben der St. An- gela-Schule auch das Burgau-Gym- nasium betreut. „So entwickeln die Schülerinnen und Schüler Resi- lienz.“ Bölting hat es schon gehört: „Sie sind doch die Sozialseelsorge- rin – gut zuwissen.“ Allein, dass das niedrigschwellige Angebot, jemand Drittes kurzfristig und unkompli- ziert bei Problemen ins Boot holen zu können, existiert, „gibt einGefühl vonRückendeckung“. Dazu kommt die religionsübergreifende Gestal- tung von Meilensteinen wie Schul- eintritt und Abschluss. Manchmal springen Schulseelsorger auch als Unterrichtsvertretung ein. Bewegte Pausen verschaffen Kindern Spiel- partner, die (noch) keine Freunde finden konnten. Das alles nimmt Druck aus dem System und fördert die Gemeinschaft. Die mehrmonatigen Schul- schließungen und Teilöffnungen im Wechselunterricht hat die Dü- rener Schulseelsorge allerdings be- sonders gefordert: Fünfer-Klassen, die kaum eine Chance hatten, sich richtig kennenzulernen; Schülerin- nen und Schüler, denen „vor lauter Drei-Zimmer-Wohnung“ dieDecke auf den Kopf fiel; Kinder, denen Ta- gesrhythmus und Lernmotivati- on komplett abhandengekommen sind. Und zugleich keine Chance auf Tür-und-Angel-Gespräche. Ein wesentliches Merkmal von Schul- seelsorge – Niedrigschwelligkeit – war ausgebremst. „Aber anders als im ersten Lock- down, in dem wir recht lange ge- braucht haben, auf digitale Formate umzustellen, fiel uns der Umstieg jetzt nicht mehr schwer“, berich- tet Kruse. Freiwil- liges Motivationscoaching, digitale Klassentreffen, Fastenimpulse pas- send zur Seelenlage der Schülerin- nen und Schüler, eine „Aschermitt- woch-Klagemauer“, die zu Konfetti verarbeitet wird – die Schulseelsor- ge und -sozialarbeit nutzte die di- gitalen Möglichkeiten kreativ. Die verbliebenen analogen Möglich- keiten waren zudem ein wichtiger Einstieg, um miteinander ins Ge- spräch zu kommen. Egal, ob in der Notbetreuung, in den weiterhin ge- öffneten Fahrradwerkstätten oder beimAbholen von Leih-Computern fürs Distanzlernen. „Ich habe auch Hausbesuche bei völlig abgetauch- ten Schülerinnen und Schülern ge- macht“, berichtet Hürtgen. Corona-Folgen verschwinden nicht Bei aller Kreativität – die Auswir- kungen der Schulschließung auf die psychosoziale Gesundheit der Schülerinnen und Schüler war im- mens und damit auch die Heraus- forderungen für die Schulseelsor- ge groß. Und sie werden auch mit der Rückkehr zumweitgehend nor- malen Schulalltag nicht sofort ver- schwinden. „Es gibt bereits Schüle- rinnen und Schüler, die nicht wieder in die Schule kommen wollen. Aber die ganze Bandbreite der Probleme ist noch nicht bei uns angekom- men“, sagt Bölting. „Es ist gut, wenn wir frühzeitig von solchen oder auch anderen Schwierigkeiten erfahren.“ Oft helfe den Kindern schon zu hö- ren, dass sie nicht allein ein Problem haben und dass schlechte Gefühle nicht sofort Zeichen für eine psy- chische Erkrankung sind. Schließ- lich könne die Pandemie auch eine Gelegenheit sein zu wachsen. „Die Kinder und Jugendlichen haben so viel geschafft. Sie haben wesent- lich dazu beigetragen, dass sich die Welt weiterdreht. Das wollenwir ih- nen vermitteln“, beschreibt Bölting, was ihre Kollegen und sie sich für die nächste Zeit vorgenommen hat. Für Schulseelsorger ist die Corona-Pandemie noch einmal eine besondere Herausforderung bei ihrer täglichen Arbeit. So manches Problem lässt sich aber auch ganz nebenbei lösen. Kommen über die Fahrradreparatur ins Gespräch: Rudi Hürtgen (l.) und Schülerinnen und Schülern in der Fahrradwerk- statt „Rad und Tat“ in der Realschule Wernerstraße. FOTO: PRIVAT Haben ein offenes Ohr: Mechtild Bölting und Michael Kruse. FOTO: ELMAR FALTER „Wenn Du denkst, dass Du niemandemmehr trauen kannst, ist es gut, eine neue Perspektive zu entwickeln.“ Rudi Hürtgen, Schulseelsorger

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