Medienstunde | Ausgabe A1

3 Mittwoch, 23. Juni 2021 Unterschiede, die inspirieren VON RAUKE XENIA BORNEFELD NIEDERZIER Thomas Hitzlsperger outete sich 2014 als schwul. Der ehemalige Fußball-Nationalspieler schaut aus einem großen Zeitungs- bericht, der an einer Schulpinnwand hängt. Daneben allerlei anderes Wissenswertes zum Thema Sexu- alität, Gender und Identität. „Die Pinnwand hängt an einem Ort, an dem in der Schule alle – Schülerin- nen und Schüler, Eltern, Lehrkräf- te – immer wieder vorbeikommen oder auch dort warten müssen“, erklärt Christiane Jeß. Sie ist Lehre- rin für Englisch und Erdkunde an der Gesamtschule Niederzier-Mer- zenich und Ver- antwortliche für das Projekt „Schu- le derVielfalt“ an der Gesamtschule im Kreis Düren. Ziel von „Schule der Vielfalt“ ist: Homophobie und Transfeindlichkeit entgegentreten, eine Atmosphäre der Akzeptanz in Schule schaffen. Die Gesamtschule Niederzier-Merzenich ist schon fast zehn Jahre dabei und war die zwei- te Projektschule in NRW. Für Svenja, Havia, Celine, Ama- riah, Julia, Sebastian, Angelina, Elisa und Lea ist es ganz normal, dass der eine oder die andere homo- oder bi- sexuell ist und dies auch offen lebt. Auch trans sein – also bestimmteGe- schlechtsmerkmalewie einen Penis oder eine Vagina haben, sich aber nicht entsprechend als Junge oder Mädchen fühlen – ist für die 15- und 16-Jährigen nichts Außergewöhnli- ches. Der Horizont der Jugendlichen geht über binäre Geschlechtermo- delle hinaus. „Hier muss niemand Angst haben, man wird für nichts verurteilt“, meint Svenja. „Egal wie man gekleidet ist oder welche Iden- tität man hat.“ Havia findet sogar: „Die Vielfalt kommt auf mich zu. Und das inspiriert mich.“ Gera- de im Vergleich zu anderen Lehr- anstalten sehen sie ihre Schule als weit vorangeschritten auf demWeg zu einer vielfältigenGesellschaft, die alle Spielarten der Natur akzeptiert. „Ich bin immer überrascht, wenn ich auf Ablehnung treffe, weil ich das aus unserer Schu- le nicht kenne“, sagt Julia. Trotzdem: Auch an der Gesamt- schule Nierzier-Merzenich wird manchmal „Schwuchtel“ als Schimpfwort über den Schulhof gebrüllt. Über 1100 Schülerinnen und Schüler an zwei Standorten – da sind nicht immer alle nett zueinan- der. „Es gibt immer Verbesserungs- möglichkeiten. Wir sind nicht per- fekt“, sagt Amariah. „Die Idee von Vielfalt als Normalität ist noch nicht bei allen angekommen.“ Ähnlich wie beimProjekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Cou- rage“ reicht es deshalb nicht, als „Schule der Vielfalt“ einmal eine Projektwoche zum Thema abzu- halten, sich ein schönes Schild auf- zuhängen und nie wieder darüber zu sprechen. „Gleichzeitig muss man eine gute Balance finden, um die Jugendlichen nicht zu überfor- dern und dadurchmehr Ablehnung zu produzieren.Wirmüssenmit der gesellschaftlichen Entwicklungmit- schwingen“, erklärt Jeß. Wie viele zusätzliche Regenbo- genfahnen sind imPride-Monat im Schulgebäude in Niederzier – dem Standort der Mittel- und Oberstu- fe – angemessen? Welche Informa- tionen sollen die Pinnwand im Flur füllen? Welche Spielräume gibt der Kernlehrplan des Landes für The- men? Solche Fragen werden an der Gesamtschule Niederzier-Merze- nich vor allem am Standort Nieder- zier immer wieder erörtert. „Es geht darum, die Bedürfnisse aller an der Schule zu sehen und zu beachten. Unser Ziel ist, ‚queer sein‘ als normal anzusehen. Das istmehr als Toleranz“, so Jeß. Der Holzham- mer sei für solch ein Ansinnen das falsche Instrument. Mit Geduld und dem Vermitteln von Wissen kom- me man deutlich nachhaltiger vo- ran. Von allein blühe eine „Schule derVielfalt“ zugleich auch nicht auf. Die Schülerinnen und Schüler profitieren von dieser Strategie: „Die Atmosphäre ohne Diskriminierung und das Wissen über queere The- men machen selbstbewusst“, sagt Celine, die sich mit Schuleintritt nicht hätte vorstellen können, dass sie sich in der Schülervertretung en- gagiert – gerade für die Einrichtung einer Unisex-Toilette – und bei der Abschlussfeier des zehnten Jahr- gangs die Abschlussrede hält. Se- bastian findet auch außerhalb der Schule manchmal den Mut, sich Homophobie und Transfeindlich- keit entgegenzustellen: „Durch das Wissen, das ich hier in der Schule er- worben habe, kann ich auch andere aufklären. Zumindest inweniger ag- gressiven Situationen tue ich das.“ Schule ist ein Lernfeld – gerade in Sachen Vielfalt und Respekt. „Es ist ein Genuss, wenn es in den Hir- nen sichtbar rattert“, meint SV-Leh- rer Jan Schillings, bei demsich diese Zufriedenheit vor allem dann ein- stellt, wenn das Verstehen über die Anforderungen des Chemieunter- richts hinausgeht. „Unser Auftrag als Schule ist es, kompetente und mündige Bürger zu erziehen.“ Seit fast zehn Jahren macht die Gesamtschule Niederzier-Merzenich beim Projekt „Schule der Vielfalt“ mit. Homophobie und Transfeindlichkeit wird dort aktiv entgegengetreten. Christiane Jeß, Lehrerin und Projektverantwortliche für „Schule der Vielfalt“, vor der Info-Pinnwand der Schule. FOTO: RAUKE BORNEFELD „Die Idee von Vielfalt als Normalität ist noch nicht bei allen angekommen.“ Amariah, Schülerin an der GesamtschuleNiederzier-Merzenich Leben die Vielfalt: Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Niederzier-Merzenich. FOTO: RAUKE BORNEFELD

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