Ada - Leseprobe

14 Falscher Abgang Zum ersten Mal sah ich meinen Bruder auf der Bühne wie- der. Er stand oben, ich saß unten. Shakespeare, Maß für Maß. Der Titel passte. Der Tag auch, aber das wusste ich noch nicht, als ich die Besetzung im Programmheft las. Es war der 9. November 1989 . Bei seinem Auftritt erschrak ich über seine gelb gefärbten Haare. Tat er es jetzt unserer Mutter gleich? War er Schau- spieler geworden, um hinter unzähligen Masken zu ver- schwinden? So wie sie sich unter ihren Perücken in immer neuen Farben versteckt hatte? Fünf Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Fünf Jahre. Eine lange Zeit. Er war älter geworden. Ich vermutlich auch, aber das ist eine Wirklich- keit, die wir lieber in den Gesichtern der anderen erkennen. Jedenfalls stand er jetzt auf dem Kopf und strampelte mit seinen Beinen durch die Luft. Das Publikum klatschte und johlte, fest entschlossen, sich zu amüsieren. Ich war gerade vierundvierzig geworden, und entgegen der Familientradition ging ich nicht oft ins Theater. Der gan- ze Kulturklimbim interessierte mich nur mäßig. Ich starrte geistesabwesend auf die Bühne. Ganz vorne am Bühnenrand saß ein dicker, kleiner Schauspieler, sein schmales Gesicht und die Halbglatze er- innerten mich an meinen Vater. Er machte gerade tages- politische Witze. Jetzt erhob er sich, ging ein paar Schritte Richtung Bühnengasse, blieb kurz stehen, machte eine unerwartete, bedeutungsvolle Pause, um sich wieder ans

RkJQdWJsaXNoZXIy MTk4MTUx